Phänomenologie des Abschieds vom Leben: eine onto-anthropologische Annäherung mithilfe des Konstrukts „Antizipatorische Daseinsverabschiedung“
- Der Tod kann nicht in der Erste-Person-Perspektive erfahren werden, sodass die Phänomenologie des Todes aus dieser Perspektive eine Auseinandersetzung mit dem Gewahrwerden des Sterbenmüssens ist. Der Tod ist stumm und macht stumm; er ist nicht erfahrbar, jedoch im Sterben wird der Tod erlitten. Über das Erleben des Todes lässt sich nichts empirisch Begründetes sagen, da er weder erfahrbar noch erzählbar ist. Dennoch müssen Worte gefunden werden, die den Tod versprachlichen, um mit ihm umgehen und ihm standhalten zu können. In der vorliegenden Arbeit wird neben dem abstrakt-allgemeinen Zugang der Philosophie auch der individuell-ästhetische Ansatz der Literatur zur Geltung gebracht, die beide zusammen helfen sollen, Worte für das Sterben und den Tod zu finden.
Die Konfrontation mit dem Tod ergeht aus der menschlichen Bewusstheit über die eigene Endlichkeit als Sterbenmüssen. Diese antizipierte Gewissheit des Sterbenmüssens hat einen Einfluss auf die eigenen Einstellungswerte in derDer Tod kann nicht in der Erste-Person-Perspektive erfahren werden, sodass die Phänomenologie des Todes aus dieser Perspektive eine Auseinandersetzung mit dem Gewahrwerden des Sterbenmüssens ist. Der Tod ist stumm und macht stumm; er ist nicht erfahrbar, jedoch im Sterben wird der Tod erlitten. Über das Erleben des Todes lässt sich nichts empirisch Begründetes sagen, da er weder erfahrbar noch erzählbar ist. Dennoch müssen Worte gefunden werden, die den Tod versprachlichen, um mit ihm umgehen und ihm standhalten zu können. In der vorliegenden Arbeit wird neben dem abstrakt-allgemeinen Zugang der Philosophie auch der individuell-ästhetische Ansatz der Literatur zur Geltung gebracht, die beide zusammen helfen sollen, Worte für das Sterben und den Tod zu finden.
Die Konfrontation mit dem Tod ergeht aus der menschlichen Bewusstheit über die eigene Endlichkeit als Sterbenmüssen. Diese antizipierte Gewissheit des Sterbenmüssens hat einen Einfluss auf die eigenen Einstellungswerte in der vergegenwärtigenden Gegenwart. Während des Lebensvollzugs hält das Individuum, das vom Tod im unbestimmten Daseinshorizont weiß, bei damit verbundenem Anlass inne und reflektiert mit einer gewissen Distanziertheit über die eigene Endlichkeit. Dieses rhapsodische Innehalten in bestimmten Situationen ändert sich in radikaler Weise, wenn eine Person erfährt, dass sie eine Krankheit erleidet, die unausweichlich in den absehbaren Tod mündet. Der Mensch als bewusstseinsfähiges und demnach symbolisierendes Wesen ist sich sowohl seiner „Geburtlichkeit“ als auch seiner „Sterblichkeit“ bewusst. Er versucht demnach sowohl eine „Neueinrichtung“ als auch eine „Abschiedlichkeit“ für sich zu formulieren, und zwar in antizipatorischer Weise, das heißt wissend um das Was, aber – ausgenommen besonderer medizinischen Konstellationen ¬– nicht das Wann und Wie, sodass er spätestens bei der Konfrontation mit einer potentiell tödlichen Krankheit Wege des Umgangs mit dem nun notwendigen – weil unausweichlich gewordenen – Sterbenmüssen in persönlicher Gestalt erkunden muss. In der Rede über den Tod konfluieren Anthropologie und Ontologie in befangener Weise, denn jedes bewusstseinsfähige Individuum weiß um das geteilte sterbliche Schicksal und kann daher dieser Gewissheit im Daseinshorizont nicht neutral begegnen, sondern muss sich ihr antizipierend im Futur I und vor allem im Futur II stellen, das heißt, das eigene Leben im futurum exactum als beendet vorwegnehmen, um sich im verbleibenden Daseinsvollzug einrichten oder reorientieren zu können.
Das Hauptanliegen der vorwiegend anthropologisch ausgerichteten und ontologisch geprägten Untersuchung besteht darin, die Grundbedingungen für die Auseinandersetzung des Menschen mit dem eigenen Sterbenmüssen zu reflektieren. Diese Auseinandersetzung gründet in der anthropologischen Bestimmung des Menschen als bewusstseinsfähiges, symbolisierendes, nach transtemporaler Identität strebendes und proleptisch angelegtes Wesen. Hierzu wird die These aufgestellt, dass, wenn sich eine tödliche Krankheit (eine Krankheit zum Tode) aufdrängt und der eigene Tod als notwendig im greifbaren Zeithorizont erscheint, Grunddimensionen des Menschseins im Modus der Auseinandersetzung mit dem eigenen Ableben als Aufhören-zu-sein aktiviert werden. Die Fragestellung lautet demnach: Kann ein mehrdimensionaler anthropologischer Raum definiert werden, dessen Dimensionen die fundamentale Struktur der Auseinandersetzung mit dem eigenen Sterbeprozess und Ableben im Angesicht einer Krankheit zum Tode idealtypisch abbildet? Diese Fragestellung wird anhand eines historischen und eines systematischen Ansatzes untersucht. Im historischen Ansatz werden die Beiträge von den Vorsokratikern bis Nietzsche erörtert, um danach auf die unterschiedlichen Positionen der letzten 150 Jahre einzugehen, die den Tod existentialisieren (klassische Existenzphilosophie; Philosophen der „Auflehnung gegen den Tod“; neue ontologische Systeme; neue moralphilosophischen Ansätze in Bezug auf den Tod und Philosophie der Hoffnung). Im systematischen Ansatz wird die Fragestellung vor dem Hintergrund des historischen Ansatzes ausgearbeitet: Einerseits die Bedingungen der Möglichkeit der Auseinandersetzung mit dem Sterbenmüssen; andererseits die Theorie der „Antizipatorischen Daseinsverabschiedung“ als mehrdimensionale anthropologische Modellierung. Drei praxeologische Korollarien lassen sich in Anlehnung an dieser Theorie ableiten
Die primäre Intention dieser Untersuchung ist eine anthropologische, da sie sich auf Invarianten der Erlebens- und Symbolisierungsleistungen des Menschen als Menschen bezieht. Sie ist in zweiter Linie ontologisch angelegt, da sie sich auf grundlegende, gattungsimmanente und wesenhafte Strukturen des Menschseins bezieht. Die gewählte Methodologie ist die phänomenologische Reduktion von Sachverhalten in der Auseinandersetzung mit dem eigenen Sterbenmüssen im Angesicht einer zum Tode führenden Krankheit auf philosophisch-anthropologische Begriffe; dabei werden die Erste-, Zweite- und Dritte-Person-Perspektive, im Singular wie im Plural für die Untersuchung zugrunde gelegt. Es werden A-priori-Strukturen postuliert, die aus einer progressiven Reduktion der empirischen Eindrücke gewonnen werden. Lebenswelt, Interpersonalität und Kommunikabilität sind bestimmend für die anthropologische Perspektive, da sie eine Unterscheidung zwischen „Abwesenheit“ und „Verlust“ ermöglichen. Es geht in dieser Untersuchung nicht um eine Ethisierung des Sterbens (Zuständigkeit der Moral), der Bewältigung von Angst und Konflikten im Angesicht des nahen Todes (Zuständigkeit der Psychologie), der Kriterien für die Definition des Todes und des Umgangs mit der Materialität des Sterbens und des Todseins (Zuständigkeit der Medizin) oder der transmortalen Wirklichkeit der Kontinuität der Person (Zuständigkeit der Eschatologie).
Der erste systematische Teil befasst sich mit den Bedingungen der Möglichkeit einer philosophisch fundierten Rede über den Tod. Hierzu werden drei Abschnitte differenziert, die sich im Sinne eines analytischen Ansatzes mit definitorischen Begriffsbestimmungen befassen: a) systematisch generierte semantische Felder zu „Tod“ und grundlegende thanatologische Begriffsbestimmungen; b) Bedingungen der Möglichkeit der Auseinandersetzung mit dem eigenen Ableben (Verschränkung von grundlegenden anthropologischen Begriffen: Bewusstsein, Identität, Ich-Selbst, Selbst-Bewusstsein, menschliches Individuum, Subjekt und Person); c) Darstellung von thanatologischen Perspektiven zur progressiven Eingrenzung des anthropologischen Ansatzes: kulturanthropologische, medizinische, psychologische, philosophische und theologische Perspektiven mit ihren jeweiligen Facetten.
Im zweiten systematischen Teil wird die metaphysische Annahme einer anthropologischen Grundstruktur des Menschen als bewusstseinsfähiges Wesen vorgestellt: Im Angesicht des Todes werden in spezifischer Weise Fundamentaldimensionen des Menschseins aktiviert. Diese Dimensionen ruhen latent, solange der Tod im Daseinshorizont als gewiss-möglich-aufschiebbar im Sinne einer Gattungsbestimmung steht – als „abwesende Anwesenheit“ (Landsberg), die eingraviert ist in unserem biologischen Sein. Aktualisiert werden diese Dimensionen durch die einbrechende Gewissheit des eigenen unausweichlichen Sterbenmüssens, wenn sich aufgrund einer unheilbaren Krankheit das Ende des Lebens konkret ankündigt. Durch diese Eingrenzung werden andere Todeskonstellationen von der Untersuchung ausgeschlossen wie Todesurteile, tödliche Unfälle, Umkommen bei Naturkatastrophen, Morde, plötzlicher Tod und Suizid, da sich unter diesen Umständen der Prozess des Sterbens entweder nicht ankündigt oder herbeigeführt wird. Der in dieser Arbeit vertretene thanatologisch-anthropologische Ansatz ist gekennzeichnet durch ontologische Annahmen über die Grundstruktur des Menschseins und universelle Merkmale des Menschen wie Geburtlichkeit, Identität, Symbolisierungsfähigkeit, Abschiedlichkeit, Antizipation, Transzendierung, Trauerfähigkeit, Daseinseinrichtung, Schicksalssolidarität, Verstehensdisposition und bindungsbasiertes Mitsein.
Die postulierten präreflexiven Fundamentaldimensionen des Menschen als bewusstseinsfähiges und infolgedessen mit Symbolisierungsfähigkeit ausgestattetes Wesen sind: Meinigkeit, Leiblichkeit, Interpersonalität, Zeitlichkeit und Transzendierungsfähigkeit. Daraus lassen sich die im Angesicht des Todes aktivierten Dimensionen ableiten; diese Dimensionen sind zwar latent im Lebensvollzug wirksam, werden aber sozusagen „scharf geschaltet“, wenn der eigene Tod aufgrund einer Krankheit zum Tode sicher-notwendig-unausweichlich vom Betroffenen vergegenwärtigt wird. Aus der Fundamentaldimension der „Meinigkeit“ wird die perimortale Dimension des Ablaufes der Daseinszeit als bezogen auf das personale Aufhören-zu-sein abgeleitet; aus der Fundamentaldimension der „Interpersonalität“ wird die Altruistische Sorge als der Ich-dezentrierte Einbezug der Mitleidenden abgeleitet, da man nicht nur selbst stirbt, sondern stets jemandem stirbt; aus der Fundamentaldimension der „Zeitlichkeit“ wird die perimortale Dimension des Ringens um Akzeptanz abgeleitet, was bedeutet, dass die eigene Daseinszeit unwiederbringlich zu Ende geht; aus der Fundamentaldimension der „Leiblichkeit“ wird die perimortale Dimension der Versehrten leiblichen Präsenz als bezogen auf die zunehmende körperliche Gebrechlichkeit, Unselbständigkeit, Abhängigkeit, Schmerz, Kontrollverlust und Entstellung, abgeleitet; aus der Fundamentaldimension der „Weltlichkeit“ wird die perimortale Dimension der Daseinsversöhnung, vor allem im Sinne eines möglichen Sich-Einrichtens in der je meinen Lebenswelt mit dem Schicksal der nun notwendig-unausweichlich gewordenen Endlichkeit, abgeleitet; schließlich wird aus der Fundamentaldimension der „Transzendenz“ bzw. „Transzendierungsfähigkeit“ die besonders bedeutende perimortale Dimension der Selbsttranszendenz abgeleitet. Die letzte Dimension meint, eine distanzierende Perspektive gegenüber der leidvollen Situation einzunehmen, um eine Einstellung der Akzeptanz und der Progression im intimen Innenraum entwickeln zu können. Jede Dimension weist zwei Faktoren auf, die aus einer internen Generativität heraus als teilweise komplementäre Facetten dieser Dimensionen aufgefasst werden sollten: I. Selbsttranszendenz (a. Permanenz; b. Metaphysisches Aufgehen); II. Ablauf der Daseinszeit (a. Abschluss; b. Abschiednehmen); III. Altruistische Sorge (a. Hinterlassenschaft; b. Nächstenliebe); IV. Daseinsversöhnung (a. Daseinserfüllung; b. Friede); V. Ringen um Akzeptanz (a. Widerstand; b. Annahme); VI. Versehrte leibliche Präsenz (a. Körperliche Versehrtheit; b. Leiblichkeit als Präsenz). Eine Ausnahme bilden „Widerstand“ und „Annahme“, da sie im Prinzip nicht komplementär sind, sondern sich nach einer binären Logik ausschließend gegenüberstehen, eine Logik die in der Grenzsituation des Sterbens gebrochen wird, wie empirisch festgestellt werden konnte.
Das Konstrukt „Antizipatorische Daseinsverabschiedung“ wird von anderen benachbarten psychologischen und philosophischen Konstruktionen differenziert; Ähnlichkeiten und Unterschiede werden benannt und begründet. Es handelt sich hierbei insbesondere um die psychologischen Konstrukte der Sterbephasen von Elisabeth Kübler-Ross, der Antizipatorischen Trauer von Erich Lindemann und der Übergangsstadien im Wandlungsprozess des Sterbens von Monika Renz. Aus philosophischer Sicht wurden das Antizipatorische Bewusstsein nach Ernst Bloch und die Immunisierende Antizipation bei Peter Sloterdijk diskutiert. Im Grenzbereich zwischen Philosophie und Psychotherapie befinden sich die eher philosophischen Konzeptionen des Lebenssinnes und der Absurdität des Lebens (z. B. Albert Camus und Thomas Nagel) sowie psychologische Konzeptionen wie „Lebensbedeutungen“, „Sources of Meaning“, „Life Attitudes“, „Meaning in Life“, „Significances“, „Wertebasierte Psychotherapie“ (William Breitbart), „Existentielle Psychotherapie“ (Irving Yalom), „Logotherapie (Viktor Frankl) oder „Dignity Therapy“ (Harvey Chochinov); alle diese Ansätze zielen auf die Frage des Sinnes, der nicht allgemein beantwortet werden kann – wegen der Gefahr, das Absurde zu berühren -, sondern individuell im Sinne einer Suche nach Einstellungswerten, die Orientierung und zugleich Halt geben innerhalb der Grenzen einer konkreten Existenz mit ihrer Lebensgeschichte und ihren Erwartungen. Schließlich bestehen literaturwissenschaftliche Ansätze, die Möglichkeiten und Szenarien entwerfen, sowohl fiktional wie real, wobei hier der vorgängige Tod in der Auto-Thanato-Biographie (Belhay Kacem) und vor allem die autodiegetischen Schriften von Autoren, die wussten, dass sie an einer tödlichen Krankheit leiden (z. B. Harald Brodkey und Wolfgang Herrndorf) sowie literarisch geformte Trauerarbeit nach dem Verlust einer nahestehenden Person (z. B. Julian Barnes und Joan Didion) die bedeutendsten Perspektiven für die hier vertretene Theorie darstellen. Diese Ansätze entstehen durch die Kombination der Person-Perspektiven und der Dichotomie real vs. fiktional.
Nach der Darstellung und Begründung des Konstruktes „Antizipatorische Daseinsverabschiedung“ werden drei praxeologische Korollarien abgeleitet: a) Ansätze zur Transzendierung des Todes; b) Weisen der Integration der Idee des Todes in das Leben und Bedeutung für die Lebensführung; c) Reflexionen zur Humanisierung der Medizin am Lebensende bei Beachtung fundamentaler, anthropologisch begründeter Bedürfnisse im Angesicht des Todes.
Zu den Transzendierungsversuchen zählen philosophische, quantenmechanische, theologische, spiritistische bzw. esoterische und vor allem literarische. Die literarische Aufarbeitung von Sterben und Tod ermöglicht identifikatorische Prozesse, vor allem aber macht sie den Ernst des realen Sterbenmüssens anhand konkreter Schicksale bewusst. Versucht man spezifische anthropologische Themen aus jeder Perspektive herauszuarbeiten, ergibt sich eine sehr starke Überlappung dieser Themen, da sie intrinsisch begrenzt sind. Alle Perspektiven lassen vier Funktionen erkennen: die bewertenden rhapsodischen biographischen Rekonstruktionen; die Antizipation von Szenarien des Verfalls; das emotionale und biographische Einbeziehen von Nahestehenden und das reflektierende Beschreiben des Hier und Jetzt im Angesicht des zunehmenden Verfalls und des sich ankündigenden Todes. Eindrucksvoll ist die, bei aller Vielfalt, von allen Autoren intendierte emotionale Verarbeitung des eigenen Verfalls über Angst, Humor, Hinnahme, Rationalisierung, Hoffnung, Verdrängung und Sublimierung sowie das Nebeneinanderbestehen von entgegengesetzten Haltungen, wie beispielsweise sich hoffnungsvoll einer maximalen Behandlung zu unterziehen und zugleich das eigene Schicksal anzunehmen. Die reale Zweite-Person-Perspektive befasst sich vor allem mit der literarischen Aufarbeitung von Trauer. Die Möglichkeiten der fiktionalen Literatur, das Thema „Sterben“ und „Tod“ darzustellen und zu ergründen, scheinen vielfältig zu sein und eröffnen Szenarien, die - in Abhängigkeit von der Bereitschaft, sich erreichen und affizieren zu lassen - zu einer Reflexion der eigenen Existenzbedingungen und der moralischen und metaphysischen Bedeutung des Todes einladen können. Die literarische Auseinandersetzung mit Sterben und Tod gibt Hinweise auf vielfältige Möglichkeiten, das persönliche Drama der Seinsabnahme und des Abschieds Nahestehender zu transzendieren, das heißt im Innehalten und in der Selbstdistanzierung Räume der Begegnung und der Auseinandersetzung mit dem Schicksal der Endlichkeit herzustellen. Als Ausblick stellt sich die Frage der Möglichkeit einer Transzendierung der Unmittelbarkeit des biologischen Todes durch die literarischen Aufarbeitungen von Schicksalen und durch die literarischen Angebote, den Ernst des Todes für die eigene Existenz zu explorieren, um daraus ein Daseinszubehör zu entwickeln. Sterben kann im engeren Sinne nicht gelernt werden, aber dieses Lernen als Metapher – Sterbenlernen – könnte die Aneignung eines reflexiven Daseinszubehörs in der Auseinandersetzung mit der Endlichkeit und dem eigenen, personalen Aufhören-zu-sein bedeuten, um eine gewisse Daseinsataraxie im Horizont des Sterbenmüssens zu erlangen. Die dichterische Weise, sich dem Phänomen des Todes zu nähern, könnte ein kathartisches Moment der vorgeschlagenen Daseinsataraxie als existentielles Projekt darstellen.
Der Ansatz der Integration der Idee des Todes in das Leben ist eng verknüpft mit dem Konzept der Lebenskunst, denn die Vorstellung des Todes im Daseinshorizont befähigt zu einer existentiellen Selbstachtung bzw. Selbstfürsorge und setzt die Bereitschaft zur Neuorientierung in Gang. Die Antizipation des eigenen Todes kann durch die „Affirmation des futurum exactum“ (Spaemann) reflexiv einen wirksamen Einfluss auf den Lebensvollzug ausüben, wenn man die Kierkegaardsche Ernsthaftigkeit vor der Idee des zeitnahen Sterbenkönnens berücksichtigt. Der Blick in den Innenraum ist demzufolge ein Innehalten im Hier und Jetzt aus einem externen konfrontativen Anlass heraus. Dazu gehört auch das Trauern als schmerzlicher Verlust von Mitsein, der bewirken kann, dass der Trauernde durch den Verlust des anderen Teils dieses Mitseins den Tod paradoxerweise symbolisch in Form einer eigentümlichen Depersonalisation erfährt. Wils spricht in diesem Zusammenhang von einer Entzugserfahrung als „Riss im Sein“, der mit trostspendenden Ritualen abgemildert werden könne. Die Trauer ist nicht nur Ausgangspunkt der reorganisierenden Neuorientierung des Trauernden, sondern sie ist auch eine Würdigung des Verstorbenen als Mitseiender. Trost zu spenden entspricht einer Haltung der Verstehensdisposition und der Präsenz, welche die Trauer des Anderen zu lindern versucht, ohne dies wirklich zu vermögen, eine Gegebenheit, die im Sinne der Solidarität aus- und durchgehalten werden sollte. Im aufrichtigen Trost mutiert die Hilflosigkeit in ein Haltegefühl durch bekundete, empfundene und ausgedrückte Präsenz.
Eine humanistische Haltung am Lebensende bedeutet, anhand eines tieferen Verständnisses der metaphysischen Struktur des Menschseins auf die innere Welt des dem Tod Geweihten im Daseinsmodus der Konfrontation mit dem Tod einzugehen und Anschluss zu finden, ohne zu versuchen, sich allverstehend das Gegenüber anzueignen, normativ Maßstäbe zu setzen oder eine Bewältigung der aufkommenden Gefühle zu erwarten. Zu den anthropologischen Annahmen gehört, dass dieser Prozess erstens als offen im Ausgang verstanden wird; zweitens, die Antworten auf die Dimensionen nicht normativ verstanden und gedeutet werden; drittens, Widersprüche in den Antworten und Einstellungen als Teil der Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod anerkannt werden; viertens, die Auseinandersetzung eine Doppelrichtung einschlägt und auch einschlagen darf: als Prozess vs. Zustand und in Richtung Öffnung vs. Stagnation. Diese von dem Konstrukt abgeleiteten praxeologischen Prinzipien bieten eine Matrix für die graduellen Interventionen, sodass je höher die persönliche Öffnung für die Inhalte der Dimensionen ausfällt, desto stärker die Ressourcen affirmativ unterstützt werden sollten. Wenn das Ausmaß der Stagnation sich als psychopathologisch relevant darstellt, vor allem in Form von Verbitterung, Aggression und Rückzug, dann wären psychoonkologische bzw. palliativpsychosomatische Interventionen geboten, die nach dieser qualitativen Modellierung abgestuft und angepasst werden müssten. Im Sterbeprozess selbst, wenn eine verbale Kommunikation kaum mehr möglich ist und die Auflösung des Selbst in den Vordergrund tritt, wird durch „terminale Kommunikation“ versucht Anschluss herzustellen durch das (wenn nötig monologisierende) Eingehen auf eine Symbolwelt, die Archetypen des Übergangs in den Tod zum Ausdruck bringt.
Ausblick: All diesen Ansätzen und Perspektiven ist das im Menschen als bewusstseinsfähiges Wesen angelegte Bedürfnis nach Transzendenz seiner lebensweltlichen Unmittelbarkeit gemeinsam. Dieses Streben nach Transzendenz („immanente Transzendenz“) ist nicht begrenzt auf Selbst- und Immanenzdistanzierung, sondern erstreckt sich auf das Streben nach transmortaler Persistenz, was bedeutet, die Personalität bzw. Identität transtemporal unter annähernd lebensweltlichen Bedingungen zu wahren. Die Untersuchung verschiedener Weisen der Transzendenz – insbesondere der literarischen – zeigt, wie relevant es für den Lebensvollzug ist, eine Möglichkeit zu finden, den Tod in das Leben zu integrieren, und dem Begriff „Hoffnung“ eine individuelle Bedeutung einzuräumen. Nach der Analyse der Transzendenzansätze hat sich gerade der Begriff „Hoffnung“ als reichhaltig für die Begründung von Halt gebenden Einstellungen offenbart; er ist anthropologisch relevant für die Gestaltung der Lebensführung und der Selbstsorge, die Generierung von sogenannten „Einstellungswerten“ (Frankl), in der nicht fatalistischen Konfrontation mit dem eigenen Sterbenmüssen sowie als Stütze gegen die Einsamkeit durch Solidaritätsbekundung, wenn Sterbende versorgt und begleitet werden. Diese Untersuchung soll deshalb dazu einladen, die Anthropologie der Hoffnung und der Zuversicht in Opposition zu den einzelnen Erwartungen in unterschiedlichen Lebenslagen und Grenzsituationen weiter zu explorieren.…

